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Luanne Rice: „Vertraut auf eure innere Stimme“

Bis ich die US-amerikanische Schriftstellerin Luanne Rice kennenlernte, konnte ich mit Thrillern nichts anfangen. Als mir vor drei Jahren angeboten wurde, die Bücher „Schattenbilder“ und „Die letzten Stunden“ zu übersetzen, stand ich dem Auftrag daher anfangs skeptisch gegenüber. Doch je weiter meine Übersetzung fortschritt, je stärker ich mich in Luanne Rices Bücher vertiefte, desto mehr packte mich das Genre. Zu den zwei Thrillern von Luanne Rice, die ich übersetzen durfte, muss man sagen: Sie enthalten direkt zu Beginn grausame Szenen. So begegnen wir auf den ersten Seiten von „Die letzten Stunden“ einer Leiche, die wie folgt beschrieben wird:

Dort lag Beth mit halb geöffneten Augen. Ihr Mund war geöffnet und ihre hervorstehende Zunge blau und geschwollen. Um ihren Hals wand sich eine lilafarbene Linie, der Abdruck einer Schnur oder eines Seils, das sich ihr ins Fleisch geschnitten hatte. Ihre linke Gesichtshälfte wies Prellungen auf, der Schädel war hinter dem Ohr aufgeplatzt und in den Haaren klebte getrocknetes Blut. Die blauen Laken waren zerwühlt und von Flüssigkeiten verschmutzt. Eins war gerade so hochgezogen worden, dass es Beths Schwangerschaftsbauch bedeckte.

Dieser Abschnitt hat emotional etwas mit mir gemacht. Wer war diese Frau, die solche Sätze konstruierte, die ich gleichzeitig bildstark formuliert, inhaltlich aber auch abstoßend fand? Google zeigte mir das Bild einer sympathisch aussehenden, freundlich lächelnden und ruhig und aufgeräumt wirkenden Dame. Das entsprach ganz und gar nicht dem Bild, das ich von einer Thriller-Autorin hatte. Die weitere Google-Suche ergab, dass die 1955 in Connecticut geborene Schriftstellerin Luanne Rice bereits mit 11 Jahren ihr erstes Gedicht und mit 15 Jahren ihre erste Kurzgeschichte veröffentlichte. Ihr erster Roman, „Angels All Over Town“, erschien 1985, manche ihrer Bücher wurden sogar für das US-Fernsehen adaptiert. Bis vor rund vier Jahren hat sie vorwiegend Romane geschrieben, die dem Genre der Frauenliteratur zugeordnet werden. Sehr viel mehr Informationen findet man zumindest auf deutschen Websites nicht. Das machte mich umso neugieriger, sodass ich sie irgendwann über ihr Instagram-Profil anschrieb. Als ich sie fragte, ob sie mir ein paar Fragen in Form eines Interviews beantworten würde, war Luanne Rice gerade auf Lesereise mit ihrem 39. Buch, „Last Night“, in dem es ebenfalls um Detective Conor Reid geht, den ich bereits aus „Schattenbilder“ und „Die letzten Stunden“ kenne. Zwischen all ihren Terminen nahm sie sich dennoch die Zeit für meine Fragen.

15 Fragen an Luanne Rice

Luanne Rice, woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher?

Größtenteils aus meinem eigenen Leben, manchmal auch aus den Nachrichten und Verbrechen aus dem echten Leben. Ich schreibe über Dinge, die mich bewegen, die mein Herz berühren.

Kommen wir zu Ihren Anfängen: Mit elf Jahren haben Sie Ihr erstes Gedicht veröffentlicht, mit 15 die erste Kurzgeschichte. War Schreiben also schon immer Ihr Lebenstraum oder hatten Sie eigentlich einen anderen Berufswunsch?

Meine Mutter war Englischlehrerin, und mein Vater verkaufte Olympia-Schreibmaschinen, die in Deutschland hergestellt wurden. Beide ermutigten mich schon in sehr jungen Jahren zum Schreiben. Unser Haus war voller Bücher, und ich las ständig. Ich liebte es, Gedichte zu schreiben und Geschichten zu erzählen, und tief im Inneren wusste ich schon immer, dass ich Schriftstellerin werden würde. Aber ich interessiere mich auch für andere Dinge, wie Meereskunde, Kunstgeschichte und Recht, und betreibe dazu auch regelmäßig Recherche für meine Bücher.

Wie sieht Ihr Schreiballtag aus?

Ich stehe früh auf, füttere meine vier Katzen, koche mir einen Kaffee und setze mich zum Schreiben hin. Ich spreche kein Wort, bis ich zu schreiben anfange. Dann lasse ich mich von meinen Träumen der letzten Nacht inspirieren. Meistens mache ich gegen 11 Uhr eine Pause – häufig gehe ich dann am Strand spazieren – und setze mich hinterher wieder an die Arbeit, bis ich mit dem Kapitel an ein natürliches Ende komme – was meist spät am Nachmittag ist.

Viele Leser haben ja insgeheim den Wunsch, selbst einmal ein Buch zu veröffentlichen. Was sollte man beim Schreiben und Veröffentlichen des ersten Buches unbedingt berücksichtigen?

Ich würde jedem, der schreiben möchte, dazu raten, viel zu lesen, herauszufinden, was er oder sie am liebsten selbst liest, und dann darüber zu schreiben. Lasst euch beim Schreiben nichts vorschreiben. Schreibt zuerst für euch selbst, und macht euch keine Gedanken darüber, was jemand anderes darüber denken könnte; das hilft, sich nicht selbst zu zensieren, sodass die Geschichte einfach aus einem herausfließen kann. Überarbeiten kann man den Text später immer noch. Vertraut auf eure innere Stimme.

Welches Buch liegt gerade auf Ihrem Nachttisch?

„Reef Road“ von Deborah Goodrich Royce.

Gibt es ein Buch, das Ihrer Meinung nach jeder in seinem Leben einmal lesen sollte?

Ich habe einige Lieblingsbücher, könnte mich aber niemals für nur eines entscheiden!

„Ich war genauso überrascht wie meine Leser.“

Jonathan, ein Bekannter von mir, hat gerade „Die letzten Stunden“ gelesen und möchte gern wissen, ob Ihnen von Beginn an klar war, wer Beth ermordet hat, oder ob sich das Motiv zum Mord im Laufe des Schreibprozesses gewandelt hat.

Eine gute Frage, Jonathan! Inspiriert zu „Die letzten Stunden“ wurde ich durch einen realen Mordfall, der meine Familie betraf. Viele Komponenten dieses Falls sind in den Roman eingeflossen, aber während ich schrieb, fiel mir auf, dass zwar die emotionalen Aspekte gleichblieben, sich die tatsächlichen Einzelheiten – auch der Mörder bzw. die Mörderin – änderten. Ich war also genauso überrascht wie meine Leser, wer Beth dann tatsächlich getötet hat.

„Die letzten Stunden“ war Ihr erster Thriller. Wie kam es zu dem Wechsel von Frauenliteratur zu Thrillern?

Das war zwar mein erster Thriller, aber ich habe schon immer Verbrechen in meine Romane einfließen lassen. Es gab auch einen Mordfall in „Little Night“ und sogar noch einen früher, in „Stone Heart“. In „The Perfect Summer“ veruntreute eine Figur zuerst Gelder, dann verschwand sie. In „Summer of Roses“ geht es um häusliche Gewalt und Stalking. Ich denke, das liegt daran, dass mir bewusst ist, dass jeder Opfer eines Verbrechens werden kann, und als Schriftstellerin beschäftige ich mich mit den emotionalen Auswirkungen auf meine Figuren. Ich habe schon immer gern Krimis und Thriller gelesen, angefangen bei Nancy Drew. Meine Bücherregale waren immer voll von Krimis von Agatha Christie, Patricia Highsmith, Ruth Rendell, Georges Simenon – und heutzutage Michael Connelly, Harlan Coben, Tami Hoag, Lisa Scottoline und Lisa Unger, um nur ein paar zu nennen.

Frauenliteratur, Thriller, im September erscheint ein Young-Adult-Roman – in welchem Genre fühlen Sie sich am ehesten zu Hause?

Jede Art der Fiktion – ich versehe meine Bücher ungern mit einem Etikett. In den letzten Jahren hatte ich großen Spaß daran, Young-Adult-Romane zu schreiben.

Gibt es ein geschichtliches Ereignis, bei dem Sie gern dabei gewesen wären?

Ich wäre gern bei einer der ersten Expeditionen zur Erkundung der Ozeane dabei gewesen – vielleicht an Bord der HMS Challenger von 1872 bis 1876. Mit 19 nahm ich an einer Expedition zur Buckelwalbeobachtung in der Karibik teil. Diese Erfahrung hat mich tiefgehend beeinflusst, sowohl als Schriftstellerin als auch als Mensch.

„Ich spreche offen über psychische Erkrankungen“

Eine vielleicht sehr persönliche Frage: In „The Beautiful Lost“ geht es um Depressionen bei Teenagern. Ich habe gelesen, dass Sie das selbst erlebt haben. War es für Sie schwierig, darüber zu schreiben oder war es eine Erleichterung? Gibt es vielleicht einen Tipp, den Sie Teenagern mit Depressionen oder auch deren Eltern mit auf den Weg geben können?

Ich spreche ganz offen über psychische Erkrankungen und habe an einem wunderbaren Programm des McLean Hospitals zur Entstigmatisierung solcher Erkrankungen teilgenommen. Im McLean Hospital wurden Dichter*innen wie Sylvia Plath, Anne Sexton und Robert Lowell behandelt. Auch James Taylor. Manche kennen die Einrichtung auch aus dem Roman und dem dazugehörigen Film „Durchgeknallt“. Ich hatte das große Glück, wegen meiner Depressionen dort behandelt zu werden. Viele Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen, und es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen. Man muss das nicht verbergen oder den Schmerz für sich behalten. Betroffenen würde ich raten: Such dir jemanden, mit dem du sprechen kannst – es gibt viele Menschen, die dir helfen können. Das kann ein Freund sein, eine Lehrerin, die Eltern, eine Tante, ein Arzt oder eine Hotline. Den Menschen ist es wichtig, dass es dir gut geht, und ich gehöre auch zu diesen Menschen.

Nach diesem schweren Stoff nun zu etwas Leichterem: Wie entspannen Sie sich nach einem langen Schreibtag? Haben Sie ein besonderes Hobby?

Ich liebe das Meer und gehe sehr häufig am Strand spazieren. Dort suche ich nach Muscheln und Meerglas. Nachts schaue ich gern zu den Sternen auf und lerne mehr über ihre Konstellationen. Am glücklichsten bin ich immer in der Natur, wo ich auch nach Vögeln Ausschau halte. Ich habe wunderbare Stunden auf Booten verbracht, wo ich manchmal Wale oder andere Meeressäugetiere beobachten konnte. Außerdem spiele ich ein bisschen Gitarre und schreibe gern Songs.

Wie gehen Sie mit Schreibblockaden um?

Ich versuche einfach, Geduld mit mir selbst zu haben, und weiß, dass an manchen Tagen die Worte leichter fließen als an anderen.

Auf der Seite von Amazon und in Ihren neuesten Büchern wird beschrieben, dass Sie eine besondere Verbindung zum „Safina Center“ haben. Ich denke, die meisten deutschen Leser wissen gar nicht, was das ist. Möchten Sie uns etwas mehr darüber erzählen und warum das für Sie von so großer Bedeutung ist?

Das Safina Center wurde einem hervorragenden Schriftsteller, Carl Safina, gegründet, der auch ein Freund von mir ist. Carl ist Wissenschaftler und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verbinden. Mit einem humanistischen Ansatz macht er auf die Wichtigkeit von Naturschutz aufmerksam, berührt die Menschen dabei am Herzen und weckt bei ihnen das Verständnis für die Natur. Ein Zitat von der Website: „Klimaveränderungen anzugehen, Lebewesen zu retten, eine gesunde und menschliche Gesellschaft zu bewahren – oder überhaupt jegliche Art von notwendiger Veränderung zu schaffen – ist nicht möglich, wenn die Menschen die Veränderungen nicht schätzen, die nötig sind, damit die Welt überleben und die Menschheit gedeihen kann.“ Ich fühle mich geehrt, eine kreative Partnerin dieser fantastischen Organisation sein zu dürfen.

Würden Sie immer wieder Schriftstellerin werden?

Ja, ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen …

Meine Fragen waren damit zwar beantwortet, aber sofort tauchten in meinem Geist neue auf. Warum wurden von Luanne Rice, die es in den USA auf die Bestseller-Listen geschafft hat und deren Bücher teilweise für das Fernsehen adaptiert wurden, nicht noch mehr Bücher in andere Sprachen übersetzt? Warum hört man von ihr in Deutschland so wenig? Es gibt ja nicht einmal einen deutschen Wikipedia-Eintrag über sie. Nun, zumindest letzteres könnte ich ja vielleicht ändern.